Palatino87


Direkt zum Seiteninhalt

CD

Die CD ist in Kooperation mit dem Deutschlandfunk produziert worden und bei CPO erschienen

Hier geht's zur CD
Kritik von Kulturradio


Zur Musik der CD:

Eine Musikhandschrift des Mittelalters ist eine Welt für sich, ein kleines Universum, das nach je eigenen Regeln aufgebaut ist. Das Konzept, dem die Aufzeichnung eines Codex folgte, ist ausser in den liturgischen Büchern nicht immer sofort erkennbar und oft mag es dem modernen Betrachter auf den ersten Blick scheinen, als hätten da fleissige Schreiber mehr oder weniger wahllos und zufällig Dinge niedergeschrieben, die auf ihren Schreibtisch flatterten. Das stimmt so natürlich für keine der Handschriften und schon gar nicht für die Handschrift Firenze, Bibl. Laurenziana Pal. 87, auch Squarcialupi-Codex genannt. Der Squarcialupi Codex (im Folgenden
Sq) ist eine der prächtigsten Musikhandschriften der abendländischen Musikgeschichte, ein einzigartiges Dokument, das ca. 1415 geschrieben wurdeUngewöhnlich reich geschmückt und mit Randzeichnungen versehen, die sich auf die einzelnen Stücke beziehen, bildet sie eine einmalige Anthologie der italienischen Musik des 14. und frühen 15. Jahrhunderts. Damit ist das Stichwort gefallen: Sq bietet tatsächlich das Erscheinungsbild einer Anthologie. Der Inhalt umfasst einen Zeitraum von ca. 60 oder 70 Jahren Musikgeschichte.

Gherardello da Firenze
, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts tätig war, ist ebenso vertreten wie Zacara da Teramo, der erst nach der Wende von 1400 starb. Es scheint als sei jemand daran interessiert gewesen, das grosse Korpus der italienischen Musik, das wir heute zusammenfassend als Trecento-Musik bezeichnen, möglichst sorgfältig zu dokumentieren. Der Dokumentationswille ging so weit, dass die Stücke nach Komponisten geordnet eingetragen und diese Abteilungen jeweils mit dem Porträt des Betreffenden eingeleitet wurden. Diese Porträts sind keineswegs stereotype Musiker-Bilder, sondern zeigen einen hohen Grad an individuellen Zügen. Manche der Dargestellten tragen Mönchsgewänder und Tonsuren, andere sind weltlich gekleidet. Manche tragen Bärte, andere sind rasiert. Und bei Zacara fehlen ein paar Finger, was der Überlieferung zufolge tatsächlich der Fall war. Auch sieht man, dass einer seiner Füsse verkrüppelt war. Es ging also offenbar nicht darum, Idealbilder zu zeichnen, sondern die einzelnen Persönlichkeiten möglichst charakteristisch darzustellen. Durch diese Sorgfalt der Darstellungsweise weist die Handschrift gleichsam darauf hin, dass jeder dieser Komponisten nicht nur in seiner äusseren Erscheinung ein Individuum war, sondern auch in seiner Art des Komponierens. Die in Sq enthaltenen Stücke sind viel mehr als nur Spielarten des immer gleichen Stiles. Hinter den Namen stehen Künstlerpersönlichkeiten, von deren irdischem Lebenslauf wir zwar herzlich wenig wissen, deren Werke jedoch je eigene Stilmerkmale aufweisen im Rahmen der unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten, eine poetische Form wie das Madrigal, die Ballata oder die Caccia musikalisch zu gestalten. Bis auf einige wenige Fälle darf man vermuten, dass die Komponisten meist auch die Dichter ihrer Texte waren


Die prächtige Ausstattung der Handschrift ist einzigartig und findet sich in keiner der anderen Handschriften mit Trecento-Musik. Noten und poetische Texte sind sehr sorgfältig geschrieben. Die Interpreten des Repertoires werden immer wieder auf diese wertvolle Quelle zurückgreifen, nicht nur wegen der Qualität der Aufzeichnung, sondern auch wegen ihres Umfangs: Sq enthält ungefähr einen Viertel der gesamten musikalischen Überlieferung der Zeit. Auch das Ensemble „palatino 87“ hat sich von dieser Quelle verzaubern lassen und präsentiert auf der vorliegenden CD ausschliesslich Musik aus Sq.


Das 14. Jahrhundert mit seinen Naturkatastrophen, Hungersnöten, Kriegen und Krankheiten brachte Italien an den Rand des Abgrunds und es mutet wunderbar an, dass zugleich ein unglaublicher Reichtum an Malerei, Dichtkunst und Musik hervorgebracht wurde, wobei die Musik für den modernen Menschen wohl die unbekannteste dieser Künste ist. Wer kennt nicht die drei „Kronen“ der italienischen Literatur: Dante, Petrarca, Boccaccio? Wer kennt nicht Giotto, den Schöpfer der einmaligen Bilder in der Scrovegni-Kappelle zu Padua oder in der Kirche des Hl. Franziskus in Assisi? Aber Jacopo da Bologna? Francesco Landini oder Bartolino da Padova? Landini vielleicht, denn er ist nicht nur der berühmteste unter ihnen, sondern auch der, der das grösste Oeuvre hinterlassen hat. Wenn man von der Kultur „Italiens“ im 14. Jahrhundert (Trecento) spricht – und das gilt ganz besonders auch für die auf dieser Aufnahme erklingende Musik – so meint man Nord- und Mittelitalien, wobei Padua und Florenz zwei der wichtigsten Zentren waren, weitere Brennpunkte waren die Höfe der Visconti in Pavia und Mailand sowie weitere kleinere Fürstenhöfe. Damit soll nicht behauptet werden, dass der Rest des italienisch sprachigen Gebietes kulturlos gewesen sei, aber im Bereich der Musik lag das Schwergewicht eindeutig in den genannten Zentren, wobei der Florentiner Landini einen besonderen Akzent setzte.


Die auf der CD vertretenen Komponisten:

Bartolino da Padova lebte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Von den 38 überlieferten Werken (27 Ballate, 11 Madrigale) stehen 37 in Sq.

Giovanni da Cascia
lebte um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Florenz. 16 Madrigale und drei Caccen sind über liefert, davon 12 Madrigale in Sq.

Lorenzo da Firenze starb an der Wende der Jahre 1372/1373. Sq enthält 17 seiner 19 überlieferten Werke: 10 Madrigale, 6 Ballate und eine Caccia.

Francesco Landini wurde ca. 1325 wahrscheinlich in Florenz geboren und starb dort am 2. September 1397. Er war der berühmteste italienische Komponist seiner Zeit und über sein Land hinaus bekannt. Er betätigte sich auch als Organist und Orgelbauer. Sein Vater Jacopo del Casentino war Maler und ein Schüler Giottos gewesen. Landini erblindete als Kind. 1364 wurde er zum „poeta laureatus“ gekrönt von Pierre de Lusignan, der 1358 König von Zypern werden sollte. Landini war Organist an der Basilica von San Lorenzo in Florenz. Seine Werke umfassen etwa einen Viertel der Gesamtproduktion des Trecento. Manche seiner Texte sprechen von seinem Interesse an der Philosophie des englischen Philosophen William of Ockham. Als er 1397 starb,wurde er in der Basilica beigesetzt, deren Organist er gewesen war. Über 150 Werke können ihm zugeschrieben werden, 90 zweistimmige Ballate, 42 dreistimmige und 8, die in beiden Versionen erhalten sind. Ferner 1 Virelai, 9 Madrigale, 1 kanonisches Madrigal, 1 Caccia. 145 Werke stehen in Sq.


Andrea da Firenze starb 1415, er war Komponist und Organist. Sq enthält 29 der 30 erhaltenen Ballate.

Niccolò da Perugia lebte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. 41 Kompositionen sind überliefert: 16 Madrigale (alle in Sq), 21 Ballate (16 in Sq), 4 Cacce (alle in Sq)

Vincenzo da Rimini war um die Mitte des 14. Jahrhunderts tätig. 4 Madrigale und 2 Caccen sind erhalten, alle stehen in Sq.

Donato da Firenze lebte um die Mitte des 14. Jahrhunderts. 14 Madrigale, 1 Caccia, 1 Virelai, 1 Ballata sind erhalten, davon in Sq: 13 Madrigale, 1 Caccia,

Gherardello da Firenze geboren ca. 1320, Kleriker der Florentiner Kathedrale, starb 1362 oder 1363 in Florenz. 10 Madrigale, 5 Ballate und eine Caccia sind überliefert, sie alle stehen in Sq.Von ihm kennt man auch ein Gloria und ein Agnus Dei.

Jacopo da Bologna lebte um die Mitte 14. Jahrhunderts. 27 Madrigale seiner 34 überlieferten Werke stehen in Sq.Sein Madrigal „Non al suo amante“ ist die einzige bekannte Petrarca-Vertonung aus der Mitte des Trecento. Er schrieb auch einen Traktat „L’arte del discanto misurato“.

Die Texte der Madrigale und Ballaten des 14. Jahrhunderts in Italien stehen in der Tradition der Liebeslyrik des „Dolce Stil Nuovo“, der die verehrte Dame in die Nähe der Jungfrau Maria rückt und ein entsprechendes Vokabular verwendet. Im Text von Giovanni da Cascias Madrigal „La bella stella“ von Lancillotto Anguissola (Nr. 2 auf der CD) zum Beispiel, wo das lyrische Ich im Traum in einen Garten mit lauter weissen Lilien entführt wird (Symbole der Reinheit und daher auch der Madonna), verwandelt sich die prächtigste unter ihnen in eine Rose. Der Traum und die Rose sind deutliche Anklänge an den französischen „Roman de la Rose“, der im 13. Jahrhundert geschrieben worden war und auch in Italien eine grosse Verbreitung fand. Rot und weiss sind ausserdem die Farben, mit denen man in der Lyrik des Mittelalters den Teint der Dame zu beschreiben pflegte. Die Verwandlung der Lilie in eine Rose bedeutet, dass das reine Mädchen von der unberührbaren Lilie zur erreichbaren jungen Frau wird. Ein solcher Text vereinigt mehrere Elemente der literarischen Tradition und lässt auf die Belesenheit seines Autors schliessen. Madrigaltexte können aber auch ausgesprochen bukolischer Natur sein oder kleine alltägliche Szenen beschreiben. Häufig nennen sie Blumen (Lilie, Rose, Veilchen, Granatapfelblüte) oder Bäume (Perlaro, dt. Bürgelbaum, Mandelbaum) und Tiere (Adler, Lamm, Schlange, Vogel Strauss), die allerdings ihrerseits wieder auf einer zweiten Ebene symbolisch gelesen werden können. Diese Art von Lyrik hat viele Elemente mit der gleichzeitig geschriebenen französischen Poesie gemeinsam, aber nicht alles. Typisch italienisch zum Beispiel ist es, die verehrte Dame als Stern zu bezeichnen, was die Nähe der italienischen Liebeslyrik zur Mariendichtung deutlich werden lässt („Stella maris“). Von der Mitte des Jahrhunderts an wird nicht nur der poetische, sondern auch der musikalische Einfluss Frankreichs auf die italienischen Komponisten immer stärker, greifbar zum Beispiel in Landinis französisch textiertem Virelai (Nr. 8 auf der CD). Das Virelai ist die Parallelform zur italienischen Ballata. Es handelt sich dabei um eine Refrain-Form, die den musikalisch-poetischen Refrain des Anfangs am Ende wiederholt, während das italienische Madrigal des 14. Jahrhunderts aus ein oder mehreren Strophen und einem sogenannten Ritornello besteht, der nur am Ende erklingt. Der Ritornello hebt sich in den meisten Fällen musikalisch vom Strophenteil ab. Im Text begegnet häufig eine Art Quintessenz des Gesagten, ein neuer Gedanke oder ein Exemplum aus der Geschichte oder der Mythologie. Die Caccia (Jagd), eine Sonderform des Madrigals, handelt von einer Jagd, einem Fischzug, einer Marktszene und Ähnlichem. Musikalisch imitieren (jagen) sich entweder die Oberstimmen über einem Tenor,oder aber es sind alle Stimmen an der Imitation beteiligt. Typisch für die Caccia sind die Ausrufe, welche solche Texte beleben und ihnen einen theatralischen Charakter verleihen.


Bei der Lyrik von Madrigal und Ballata des Trecento handelt es sich nicht um naive Texte, auch wenn sie sich in schlichte Formen kleiden. In jedem dieser Texte steckt eine lange literarische und oft auch gelehrte Tradition. Man denke an die Hinweise auf Geschichte und Mythologie. Und was die Musik angeht, so ist auch sie als Ausdruck einer hochstehenden Kultur zu sehen. Die zwei- und dreistimmigen Sätze wurden im komplexen System der Mensuralnotation aufgezeichnet. Das Repertoire einer Handschrift wie Sq gehört in den kulturellen Kontext der geistigen Elite jener Zeit. Man denke hier an die Rahmengeschichte des „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio. In Florenz tobt die Pest, während sich die oberen Zehntausend auf ihre Landgüter zurückziehen und, um die Langeweile zu vertreiben, Geschichten erzählen oder denen zuhören, die ihre Instrumente mitgebracht haben. Wenn aus manchen Texten, wie zum Beispiel den Caccen, eine gewisse „Volkstümlichkeit“ klingt, so handelt es sich dabei um künstlerische Absicht und nicht um Zeugnisse der Volkskultur, die in der damaligen Zeit nicht aufgezeichnet wurden. Handschriften waren – auch wenn sie nicht so reich dekoriert waren wie Sq - Luxusgüter und sehr teuer. Aufgeschrieben wurde nur, was man als wesentlich empfand, und lesen und schreiben konnte ohnehin nur eine sehr dünne Gesellschaftsschicht. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts vollzog sich in der italienischen Musik ein Stilwandel und das mag der Grund gewesen sein, dass jemand auf die Idee kam, die musikalischen Zeugnisse des Trecento möglichst umfassend aufzuzeichnen. Daraus entstand das einmalige Gesamtkunstwerk, das wir nach einem seiner Besitzer als Squarcialupi-Codex bezeichnen. Das Ensemble „palatino87“ bietet auf der vorliegenden CD die Gelegenheit, in die Welt dieser Prachthandschrift einzutauchen. in der weder die Farben der Miniaturen, noch Musik und Texte an Strahlkraft verloren haben.


Nicoletta Gossen


Home | Ensemble | Hörbeispiele | CD | Kontakt | Impressum | Sitemap


Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü